Franziska Guggenbichler-Beck
Lucian Freud: "Henrietta Moraes"
Die Monsterfrau
Es schreit dieses Bild. Es brüllt. Eine Frau liegt verzerrt und entstellt auf einem froschgrünen Sofa. Nichts Menschliches an ihr. Ich finde sie widerlich. Kein Hintergrund, keine Geste, keine Details: nichts als dieser nackte Körper, von dem man gerade noch sagen kann, er sei weiblich.
Durch die langen weißen Gänge, an den grünen Bäumen hinter den hohen Fenstern gehe ich vorbei und bin erleichtert. Auf zu neuen Künstlern! Fotos mit Licht und Luft und Meer und Horizont. Ich habe wieder frische Luft zum Atmen. Ich genieße die Ruhe.
Aber die Monsterfrau brüllt und tobt immer noch in mir. Ich muss noch ein letztes Mal zu ihr zurück. Ihr Bild thront majestätisch und aufdringlich im Zentrum des Raumes. Ich fühle mich so klein. Henrietta scheint so mächtig zu sein. So abscheulich und doch so verführerisch. Ihre Gliedmaßen sind verdreht. Sie hat blaue Flecken an den Knien und am Sitzfleisch. Ja, Henrietta ist wie ein Stück faulendes Fleisch, das sich langsam zersetzt. Panik. Es schnürt mir den Magen zu. Es stinkt hier. Wie die Bläschen im kochenden Wasser kommen allerlei Brocken von Ahnungen an die Oberfläche. Hitze! Angst! Gefängnis! Abscheu! Das Bild riecht förmlich nach Alkohol, Zigaretten und einer langen, heißen Nacht. Es ist schwül. Ich bekomme keine Luft mehr. Ich bin angewidert und verblüfft. Was passiert hier mit mir? Sieh an! Dieses Monster fängt mich ein. Ich stehe davor und starre und koche. Es brüllt nicht das Bild: Es ist Bacon selbst, der da tobt! Es geht hier nicht um Henrietta. Ihm geht es nicht um ihren Körper, um ihre Schönheit, um das geschundene, grüne Sofa oder um eine Anspielung auf Tizian! Bacon hat es auch nicht auf meinen klaren Verstand oder auf meinen ästhetischen Geschmack abgesehen, sondern auf das Tier in mir.
Ich sehe die vergangenen Stunden noch einmal vor mir. Was ist nur aus diesem Frühlingstag geworden? Ich spazierte unter frischgrünen Baumkronen auf den Mönchsberg. Die Sonne schien, kleine Waldwege brachten mich zum Museum. Durch die langen weißen Gänge, an den grünen Bäumen hinter den hohen Fenstern wandelte ich von Bild zu Bild. Auf zu neuen Horizonten. Ich empfand Frieden! Ich empfand Freude! Eierkuchen!! Ein Schrei! Eine bohrende Frage! Da tut sich der Abgrund auf: Ein Mensch kann wohl ein denkendes Wesen sein. Aber er bleibt ein Tier! Noch schlimmer vielleicht: ein Scheusal? Ein Monster? Erbärmlich und einsam wie Henrietta kriecht das menschliche Wesen vor sich hin. Kein Ziel vor Augen. Es strampelt. Es hat alles keinen Sinn.
Strampel ruhig, bis der Abend kommt. Und mach dir nichts vor! Die Zeit vergeht. Die Zeit zerrinnt. Strampel ruhig. Aber vergiss nicht: du bist und bleibst: ein Abgrund.
Die Fenster sind jetzt große schwarze Löcher. Im Museum ist es still geworden. Leises Gemurmel. Das Licht ist grell. Die Luft ist schlecht und abgestanden. Kein Bild ist mehr in meinem Kopf. Kein Wort hat mehr etwas zu sagen. Schweißperlen auf meiner Stirn. Die Tür schiebt sich mir schwer entgegen. Es ist kalt draußen. Alles ist dunkel geworden. Meine Schritte auf dem Kies. In der Hand ein zerknitterter Zettel mit einem Zitat, das ich noch schnell mit einem schwarzen Filzstift hinaufgekritzelt habe: